Bin ich eine Sklavin der „Digitalen Welt“? Ein Internet-Junkie? E-Mail- und WhatsApp-süchtig? Ich behaupte: Nein. Ich kann ja jederzeit abschalten. Kann auch einfach mal nicht online sein. Wenn ich will. Aber ich will ja nicht. Internet ist einfach irre praktisch. Man kann schnell mal was nachlesen. Mit Freunden und der Familie in Kontakt sein. Einen Fotogruß verschicken und damit zeigen, dass man an jemanden denkt. Es macht Spaß, es macht Freude – und vor allem: es macht wenig Aufwand.
Aber was, wenn Du plötzlich gezwungen wirst, ohne all das auszukommen? Oder jedenfalls nicht mehr so einfach und ohne Aufwand? Wie fühlt es sich an, wirklich einmal offline zu sein? Und zwar nicht nur nachts, während man schläft?
Dieser Frage durfte ich in den letzten Tagen – nicht ganz freiwillig – nachspüren…

Ich sitze in einem gemütlichen kleinen Ferienhaus in einer der schönsten Gegenden Deutschlands – im Herzen der mecklenburgischen Seenplatte. Rings umher schöne alte Ur-Wälder, endlose Felder, unzählige Seen und Kanäle… Dazu wirklich dramatische Wolkenspiele am Himmel, die alle paar Minuten für Abwechslung sorgen – so dass auch wirklich alle Klamotten, die man mitgebracht hat, zum Einsatz kommen. Also die perfekte Gegend, um einmal im wahrsten Sinne des Wortes „abzuschalten“. Und genau das haben wir vor. Wir haben ein Kanu, ein „richtiges“ Indianerboot, mit dem wir, wie weiland Winnetou und N’Tscho-Tschi, lautlos durch das Wasser gleiten wollen, auf Augenhöhe mit den Schwänen, die uns neugierig beäugen. Wir fahren an riesigen Seerosenfeldern vorbei (nein, nicht mittendurch), durch still flüsternde Schilfkanäle, freuen uns an den tänzerischen Kapriolen der Seeschwalben und lachen über Enten, die mit quietschenden Flossen und viel Getöse auf dem Wasser bremsen. Wenn wir nicht paddeln, machen wir lange Spaziergänge durch die Wälder und Felder, die hier wesentlich größer als bei uns in Rheinhessen sind, und beobachten Kranich-Clans, die sich hier zusammenrotten und für die große Reise nach Süden bereit machen… Ferien in der Natur! Fernab von jeglichem Spam und sonstigen „Segnungen“ der  sogeannten „Digitalen Welt“.  Einfach idyllisch. Was will man mehr…?!

Abschalten?!

Das Paradies hat einen Makel. Einen ziemlich großen. Der steht hier in unmittelbarer Nähe unseres Blockhäuschens am Ufer und ist ein Mobilfunkmast. Dieser Mast macht alles platt, was nicht magentafarben funkt. Und somit befinden wir uns in einem sehr nachhaltigen Funkloch. Alles kein Problem. Wir sind ja zum Paddeln hier, nicht zum Funken. Ha! Wär doch gelacht, wir sind schließlich achtsamkeitserprobt. Halten sogar Vorträge drüber: „Gesund bleiben in der digitalen Welt!“ „Öfter mal offline sein!“ „Sich nicht zum Sklaven von Smartphone, Tablet & Co. machen lassen!“ „Mal ganz bewusst ABSCHALTEN!“
Leichter gesagt als getan. Mal eben nach dem Wetter schauen (Fürs Paddeln ja nicht unwesentlich)? Geht nicht! Ein neues E-Book aus der Online-Stadtbibliothek herunterladen? Keine Chance! Mal eben googlen, wie sich N’Tscho-Tschi schreibt oder ob Winnetou eine Freundin hatte – geht auch nicht… Vor ein paar Tagen hatte ich Geburtstag, und die vielen liebgemeinten Glückwünsche erreichten mich nicht. Katastrophe…
Ok, ich geb’s zu: Ca. 500 m von hier, auf dem Waldweg, da gibt es Empfang auch für die Benutzer der nicht-pinken Produkte. Man muss sich nur ein paar feste Schuhe anziehen, evtl. auch eine Regenjacke oder Schirm mitnehmen und losstapfen. Auf diese Weise bekommt man sogar noch etwas Bewegung und frische Luft. Die Antworten fallen halt knapper aus, weil es blöd ist, auf einem Waldweg zu stehen (laufen geht nicht, dann ist der Empfang wieder weg) und lange Mails zu schreiben. Man wird erfinderisch, erinnert sich, dass man mit so einem Smartphone auch telefonieren kann. Oder geht nach Hause, schreibt seine Mails offline und geht zum Senden wieder in den Wald. Oder nutzt den Weg zum Supermarkt. Irgendwann lässt man es ganz bleiben. Das ist der „Moment der Freiheit“ 🙂
Klar, irgendwie geht alles. Ich bin doch nicht wie Robinson von jeglicher Zivilisation abgeschnitten auf einer einsamen Insel. Aber ein bisschen fühlt es sich so an.

Die lieben Gewohnheiten…

Mein Einstig in die Digitale Welt begann vor ungefähr zwanzig Jahren, als ich mein erstes Handy hatte. Mittlerweile kann/mag ich mir ein Leben ohne mein Smartphone nicht mehr vorstellen. Es wird Menschen geben, die mich für „süchtig“ halten. Ich glaube, es ist eine sehr tief verankerte Gewohnheit, die mich hier so fest am Wickel hat. Man kann sich ja gar nicht mehr vorstellen, wie das Leben war, bevor es das Internet und den Mobilfunk gab. Wo man noch ein Telefon im Flur stehen hatte und man tatsächlich aufstehen und hingehen musste, wenn es klingelte. Wo man die Nachrichten einmal am Tag in der (Papier-)Zeitung lesen konnte und ein Wort im Wörterbuch oder Lexikon nachgeschlagen hat. Die Welt hat sich seitdem rasant verändert – und ich mich mit ihr. So sehr, dass ich mich ziemlich verunsichert oder doch zumindest sehr eingeschränkt fühle, wenn es plötzlich mal nicht so bequem geht wie gewohnt.
So mache ich hier – zwar eher ungeplant – eine Art Achtsamkeitstraining durch, wie es im Buche steht. Und ganz anders als geplant! Nicht nur Paddeln und dem Glucksen des Wassers lauschen sondern – Überraschung! – mal richtig raus aus den Gewohnheiten, mal etwas ganz anders machen als sonst… Mit allen Emotionen und Reaktionen, die dazu gehören: Verunsicherung, Wut, Neugier, Resignation, Rechtfertigung, selbstironischem Schmunzeln… und vielen Aha-Erlebnissen 😉

Apropos „Digitale Welt“ : Gerade für Spam-geplagte Menschen mit akutem Informations-Overload ist so ein Urlaub im Funkloch wirklich zu empfehlen. Die heutige Arbeitswelt (genannt: 4.0) – und nicht nur die – ist voll mit wichtigen und unwichtigen Informationen, die viel Zeit rauben und noch mehr Energie. Daher ist es – auch im Privaten – wichtig, sich immer mal wieder wirkliche Ruhepausen zu gönnen. Und dabei tatsächlich OFFLINE zu sein. Am besten freiwillig, nicht so erzwungen wie ich in diesem Fall. Auch wenn’s schwerfällt. Oder gerade dann.

In diesem Sinne – jetzt PC ausmachen und raus in den Herbst 🙂
… und schön weiteratmen!

P.S. Mittlerweile bin ich wieder zuhause und konnte googeln: Ntscho-Tschi wird ohne Apostroph geschrieben (aber sonst habe ich es ganz gut erraten, oder?) und Winnetou’s große Liebe hieß Ribanna.